Lechaim – Auf das Leben!

Kiddusch-Becher und andere Judaica aus Gmünder Produktion

25. April – 31. Oktober 2021

Ausstellungsansicht: Lechaim – Auf das Leben! Kiddusch-Becher und andere Judaica aus Gmünder Produktion, Silberwarenmuseum Ott-Pausersche Fabrik, 2021. Foto: Museum im Prediger: Joachim Haller.
Ausstellungsansicht: Lechaim – Auf das Leben! Kiddusch-Becher und andere Judaica aus Gmünder Produktion, Silberwarenmuseum Ott-Pausersche Fabrik, 2021. Foto: Museum im Prediger: Joachim Haller.

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Fünf Bsamim-Türme, v. li. n. re.: Fa. B. Ott, Schw. Gmünd, um 1900; Fa. Gebr. Kühn, Schw. Gmünd, 1. H. 20. Jh.; Bezalel School of Arts & Crafts, Jerusalem, 1913; Fa. H. Wanner, Schw. Gmünd, 1. H. 20. Jh.; Brünn (vermutl.), 18./19. Jh. © Museum im Prediger

„Der die Frucht des Weinstocks erschaffen hat“ lautet die Inschrift auf einem Kiddusch-Becher, der um 1905 von der Gmünder Silberwarenfirma Wilhelm Binder für den US-amerikanischen Markt angefertigt wurde. 2019 im Kunsthandel vom Museum im Prediger erworben, wirft die erstaunliche Exportgeschichte des Bechers ein Schlaglicht auf das ausgesprochene Renommee von jüdischem Kultgerät aus Schwäbisch Gmünd.
Mit Judaica aus dem musealen Sammlungsbestand dokumentiert die Ausstellung „Lechaim – Auf das Leben!“ im Silberwarenmuseum Ott-Pausersche Fabrik die beachtliche Kreativität im Design unterschiedlicher Typen jüdischer Kultgeräte, die in Schwäbisch Gmünd von nahezu allen Silberwarenfirmen produziert und weltweit gehandelt wurden, darunter Kiddusch-Becher, Chanukka-Leuchter, Bsamim-Türme und Fruchtdosen. Zusammen mit Leihgaben zeichnen insgesamt 40 Objekte die Entwicklungs- und Formgeschichte dieser Gefäße seit dem frühen 18. Jahrhundert nach. Über die Exponate erhellt sich auch die Rolle jüdischer Silberhändler, welche durch ihre Bedeutung im internationalen Waren- und Geldverkehr als Triebfeder für den Kultur-, Form- und Technologietransfer fungierten. Die Ausstellung reiht sich ein in das diesjährige bundesweite Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“. Führungen und Vorträge vertiefen die Schau.

Fünf Bsamim-Türme, v. li. n. re.: Fa. B. Ott, Schw. Gmünd, um 1900; Fa. Gebr. Kühn, Schw. Gmünd, 1. H. 20. Jh.; Bezalel School of Arts & Crafts, Jerusalem, 1913; Fa. H. Wanner, Schw. Gmünd, 1. H. 20. Jh.; Brünn (vermutl.), 18./19. Jh. © Museum im Prediger
Kiddusch-Becher, Fa. Wilhelm Binder, Schwäbisch Gmünd, um 1905 © Museum im Prediger, Schwäbisch Gmünd, Foto: Frank Kleinbach

Den Anstoß zur Ausstellung gab eine glückliche Neuerwerbung für die Judaica-Sammlung des Museums im Jahr 2019: ein um 1905 in der Firma Wilhelm Binder für den US-amerikanischen Markt gefertigter Kiddusch-Bescher. Der Becher, mit dem der Schabbat und jüdische Feiertage eingeleitet werden, besticht durch seine formschöne Kontur und einen Dekor von ungemein fein in Handarbeit getriebenen, hebräischen Lettern und Weinranken. Seine Exportgeschichte wirft ein Schlaglicht auf das internationale Renommee von Judaica und Jugendstil-Design aus Gmünder Produktion. Neben der Herstellermarke weist der Becher den Stempel der Firma Klein & Cie auf, die den Vertrieb in den USA übernahm. Daraus lässt sich schließen, dass es sich um keine Einzelanfertigung, sondern ein serielles Produkt handelte. Aufschlussreich ist ferner die Provenienz des Bechers, denn er stammt aus der Park East Synagoge in New York, einer bedeutenden historischen Synagoge in Manhatten und zugleich führenden Gemeinde in den USA. Der Becher steht überdies für die weltweiten Exportbeziehungen der Firma Binder, welche die Ausstellung mit zwei pointierten Anzeigen aus dem Jahr 1913 veranschaulicht: auf der einen wird die Bindersche Ware aus den Ladeluken des firmeneigenen Zeppelins auf die Weltkugel ausgestreut; die andere zeigt das europaweite Eisenbahnverkehrsnetz mit dem Produktionsstandort Schwäbisch Gmünd im Zentrum.

Kiddusch-Becher, Fa. Wilhelm Binder, Schwäbisch Gmünd, um 1905 © Museum im Prediger, Schwäbisch Gmünd, Foto: Frank Kleinbach
Bsamim-Turm, Schwäbisch Gmünd, 1. Hälfte 18. Jahrhundert, Silberfiligran, Email, Glassteine, Museum für Franken – Staatliches Museum für Kunst- und Kulturgeschichte Würzburg. © Museum für Franken – Staatliches Museum für Kunst- und Kulturgeschichte Würzbu

Diese Erwerbung stellt die Ausstellung in einem ersten Kapitel in den Kontext der Geschichte der Judaica-Produktion in Schwäbisch Gmünd, die eine jahrhundertealte Tradition hat. Bereits im frühen 18. Jahrhundert fertigten Gmünder Kunsthandwerker kunstvolle Gewürzgefäße, sogenannte Bsamim-Türmchen, zum Gebrauch für die Hawdala, die rituelle häusliche Zeremonie beim Ausgang des Schabbats. Beispielhaft repräsentiert diese Tradition ein Bsamim-Turm aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Silberfiligran, der als Leihgabe des Museums für Franken – Staatliches Museum für Kunst- und Kulturgeschichte Würzburg zu sehen ist. Dieser Filigranturm gehört zu der Gruppe von weltweit insgesamt noch acht bekannten Gmünder Bsamim-Türmen aus dieser Zeit, die sich heute in internationalen Sammlungen befinden und ihren Ursprung in Schwäbisch Gmünd haben. Belegen lässt sich die Herkunft anhand der für Gmünd charakteristischen Filigrantechnik mit zwei dünnen, miteinander verdrehten Silberdrähten; dieses besondere Herstellungsverfahren ist sowohl dem Würzburger Bsamim-Turm eigen als auch zwei Schmuckstücken aus dem Museumssammlungen, welche die Ausstellung vergleichend zeigt. Diese Synthese von jüdischer Kultur und Gmünder Traditionen verweist auf die besondere Rolle oft jüdischer Silberhändler, die durch ihre Bedeutung im internationalen Waren- und Geldverkehr als Triebfeder für den Kultur-, Form- und Technologietransfer fungierten.

Bsamim-Turm, Schwäbisch Gmünd, 1. Hälfte 18. Jahrhundert, Silberfiligran, Email, Glassteine, Museum für Franken – Staatliches Museum für Kunst- und Kulturgeschichte Würzburg. © Museum für Franken – Staatliches Museum für Kunst- und Kulturgeschichte Würzbu
Drei Chanukka-Leuchter, von links nach rechts: Fa. Otto Wolter, Schwäbisch Gmünd, um 1920; Fa. WMF, Geislingen an der Steige, spätes 19. Jh.; Fa. Gebr. Kühn, Schwäbisch Gmünd, 1960er Jahre © Museum im Prediger, Schwäbisch Gmünd, Foto: elias blumenzwerg ·

Das zweite, an Exponaten reichste Ausstellungskapitel schlägt den Bogen zur industriellen Produktion von Judaica, die sich in Schwäbisch Gmünd mit der Gründung zahlreicher Silberwarenfirmen ab der Mitte des 19. Jahrhunderts fortsetzt. Die hohe Variabilität an Typen und Formen fabrizierter Judaica bezeugen unter anderem Bsamim-Türme, Kiddusch-Becher, Chanukka-Leuchter und Fruchtdosen. Einen erhellenden Blick auf die Herstellung und Vermarktung der Judaica vermittelt ein zwischen 1920 und 1930 in der Firma Josef Pauser produzierter silberner Chanukka-Leuchter: er wird zusammen mit den Pressformen für den Davidstern und die Kerzenhalterung für den sogenannten Diener sowie dem Firmenkatalog aus den 1920er Jahren präsentiert.
Ein beredtes Zeugnis für die wechselvolle Geschichte jüdischen Lebens in Deutschland und Europa ist ein silberner Kiddusch-Becher, der als Leihgabe aus dem Besitz von Charles Steiman die Ausstellung bereichert: das zwischen 1840 und 1850 in Schwäbisch Gmünd hergestellte Trinkgefäß ist seit Generationen in Familienbesitz; seinen Weg fand er vermutlich mit der Auswanderung der Familie vom Süden Deutschlands nach Osteuropa im 19. Jahrhundert und von dort dann in der 1920er/30er-Jahren nach Rio de Janeiro, Brasilien. Die Gestaltungsvielfalt der Chanukka-Leuchter verdeutlicht dieses Ausstellungskapitel durch ein Exponat in Bankform.

Drei Chanukka-Leuchter, von links nach rechts: Fa. Otto Wolter, Schwäbisch Gmünd, um 1920; Fa. WMF, Geislingen an der Steige, spätes 19. Jh.; Fa. Gebr. Kühn, Schwäbisch Gmünd, 1960er Jahre © Museum im Prediger, Schwäbisch Gmünd, Foto: elias blumenzwerg ·
Ansicht der Silberwarenfabrik Wilhelm Binder, um 1910 © Stadtarchiv, Schwäbisch Gmünd

Im dritten, abschließenden Kapitel widmet sich die Ausstellung in Texten und Bildtafeln der Geschichte der Firma Wilhelm Binder. 1868 aus einem Handelsgeschäft und kleinen Anfängen hervorgegangen, hat sich die Firma im Laufe der Zeit zu einer der bedeutendsten Silberwarenfabriken Deutschlands mit Weltruf entwickelt. 1873 entstand der erste Fabrikbau in der Ackergasse, der nach und nach immer wieder erweitert wurde, begünstigt durch einen florierenden Exportsektor. Mit 430 Beschäftigten erreichte die Belegschaft 1914 ihren Höchststand und die Spitze der Silberwarenfabrikation in Schwäbisch Gmünd. Durch den Abriss des Fabrikgebäudes 1979/80 verlor Schwäbisch Gmünd ein über 100 Jahre lang das Stadtbild prägende Zeugnis der frühen Industriekultur.

Ansicht der Silberwarenfabrik Wilhelm Binder, um 1910 © Stadtarchiv, Schwäbisch Gmünd
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